Dazwischen -
Wie die Unmute Dance Company aus Kapstadt Übergänge schafft
„Mami, sind die echt?“ ein kleines Kind in den Zuschauerreihen ist verwirrt. Auf der Bühne sind schaurige Figuren zu sehen. Manche leben – manche nicht. Sie tragen hautenge dunkelbraune Overalls, die jeden Flecken Menschlichkeit abdecken. Ihre Gesichter sind hinter ausdruckslosen Masken verborgen. Ihnen fehlt jede Mimik, nur Einbuchtungen weisen auf verflossene Gesichtszüge hin. Mit ruckartigen, kraftvollen, kämpfenden und immer wieder erstarrenden Bewegungen beginnen die Figuren, auf einem Meer von Holzspänen zu erwachen. Zudem sind leblose, Schmerz verkrümmte Skulpturen derart gut in das Bild integriert, dass scheinbar alle Grenzen verwischen. Und doch sind es nur den menschlichen Körpern nachempfundene Drahtgestelle - mit feinen Stoffen umwoben und aus Südafrika eingeflogen, wo das Stück „Ashed“, auf Deutsch Eingäschert, 2015 zum ersten Mal gezeigt wurde.
Unmute – Unstumm
Schon der Name der Truppe ist symbolreich: Unmute – Unstumm grob übersetzt. Schließlich ist Andile Vellem gehörlos. Es ist vielsagend, dass der 42-jährige Profitänzer neben seiner Perfektion in zeitgenössischem (afrikanischem) und integrativem Tanz seine eigene Tanzsprache entwickelt hat. Sign Dance - ein Ausdruck basierend auf der Zeichensprache.
Vellem ist ein Multitalent, denn er hat auch Unmute mitbegründet und ist ihr künstlerischer Direktor. Damit das Publikum die Symbole und Metapher versteht, werden vor jeder Aufführung szenische Zusammenfassungen verteilt. Sie erläutern die Objekte und Figuren auf der Bühne beschreiben die Rollen der Tänzer/innen. Alle Bilder und Begegnungen haben eine Bedeutung. Unmute legt Wert darauf, dass man weiss, was und wer genau repräsentiert wird. So bricht sie Kompanie mit etablierten Theatermustern und fordert die Zuschauer/innen heraus.
Versteinert und eingeäschert
Das Bühnenbild zeigt eine Landschaft nach einem Vulkanausbruch. Die Holzspäne auf dem Boden versinnbildlicht die Asche, Figuren und Skulpturen symbolisieren versteinerte Menschen. Das Stück ist keine geschichtliche Auseinandersetzung mit dem Ausbruch des Vesuvs vor 2000 Jahren und den Versteinerten von Pompeji. Andile Vellem zeigt in diesem Bild vielmehr seine Wahrnehmung der südafrikanischen Gesellschaft. 23 Lavasteine hängen von der Decke – Zeichen für 23 Jahre Demokratie in Südafrika. Auch Skulpturen und Tänzer/innen repräsentieren verschiedene gesellschaftliche Gruppen des Landes.
Ohne Flügel Fliegen – ohne Beine Tanzen
Nadine Mckenzie, die als Kleinkind bei einem Autounfall ihre Beine verlor und auf einer Schule für Behinderte Tanzunterricht erhielt, rollt im Stuhl, fliegt durch die Luft und landet auf dem Boden. Sehr gekonnt bewegt sie ihren Oberkörper und ihre Arme. Sie drückt ihre Hände auf die Brust, zieht mit einem Arm am anderen und hastet auf ihren Rädern über die Bühne. Sie personifiziert Frauen mit Gewalterfahrungen, die aber stark bleiben und für Frauenrechte und Gerechtigkeit einstehen. Neben ihr kauert eine bewegungslose Skulptur, die vergewaltigte und getötete Frauen repräsentiert. Sie bleibt wie im Schock erstarrt, wird von Tänzern verschoben, getragen - mit anderen leblosen Körpern aufgeschichtet. Dazu zählen Darstellungen von Männern, die ihre Identität verloren und vergessen haben, und von Kindern, die in einer gewalttätigen Gesellschaft aufgewachsen sind.
Ein Tänzer steht für Andries Tatane aus Fixburg, der 2011 während eines Township-Protestes für bessere Infrastruktur aus nächster Nähe von der Polizei angeschossen wurde und kurz darauf seinen Verletzungen erlag. Ein anderer vertritt diskriminierte Ausländer aus anderen afrikanischen Ländern. Sie alle zeigen mit ihren Bewegungen Gewalt, Missbrauch, Selbsthass, Manipulation, schließlich Versteinerung. Obwohl die kostümierten Körper ohne Augen sich viel bewegen, wirken sie wie tot.
Zudem gibt es einen Boten, der keiner gesellschaftlichen Gruppe angehört, sondern vom Choreographen ausgesandt wird, um die Versteinerten aufzuwecken. Yaseen Manuel fällt diese Rolle zu. Der 25-jährige tanzt seit seiner Schulzeit. Neben klassischem Ballett gehören Jazztanz sowie die in Südafrika entwickelten Gumboot- und Pantsula-Tänze zu seinem Repertoire. Er führt auch durch die Performance und durch die Geschichte Südafrikas.
Mama Afrika
Nur eine Frau im erdfarbenen voluminösen Kleid hat Augen: Sie wird Mama Afrika genannt und verkörpert die Autorität der Älteren. Ihre Aufgabe ist es, die Nation zu führen. Sie singt. Und wie. Babalwa Makwethu’svolle, tragende Stimme prägt die ganze 50-minütige Performance. Sie hat unter anderem in der Future Line Arts Academy in Khayelitha, einem Township bei Kapstadt, als Schauspielerin und Sängerin gearbeitet; nun singt sie die südafrikanische Nationalhymne auf Xhosa sowie Gedichte, die speziell für „Ashed“ geschrieben wurden - klagend, manchmal anklagend. Man hört eine ungeheure Stärke und Tiefe. In ihrem eindringlichen Gesang wiederholt sie manche Worte immer wieder. Zweimalwechselt sie auf Englisch: „Wieso hassen sie die anderen so sehr? Ich sehe sie kommen. Ich sehe sie töten. Wie ein kopfloses Huhn.“
Ringen um Einheit
Für das Schlussbild werden alle Skulpturen und Menschen übereinander getürmt, Der Bote besteigt diesen Hügel aus Körpern. Dort oben singt er in der südafrikanischen Gebärdensprache die Nationalhymne. Was man sieht, ist ein gesunder junger Mann, der auf gepeinigte Figuren steht und für die nationale Einheit gebärdet. Ein schwieriges Bild – wieder stellt sich die Frage, ob nicht Tanz und Bewegungsbilder für sich sprechen sollten, ohne dass man intellektuell die symbolischen Bedeutungen kennt.
Weiss man, dass es sich um eine imaginative Figur handelt, die es nicht gibt – aber geben sollte –, verändert sich die Wahrnehmung. Sie versinnbildlicht hier die geteilte Identität unterschiedlicher Gruppierungen und die Aussage: „Zusammen sind wir stark“. So positioniert sich der Bote gegen eine Verdrängung des Leides. Einmal mehr bricht hier die Unmute Dance Company bestehende Kategorien – ohne den Bruch explizit zu thematisieren.
Findet dieser selbstverständliche Bruch von separierten Gruppierungen auch in der südafrikanischen Gesellschaft statt, um bald gemeinsam auf geteilte Identität aufbauen zu können? Rae' Classen, jüngstes Mitglied der Unmute Dance Company und Absolventin der School of Dance an der Universität von Kapstadt, meint: „Aus meiner Perspektive sehe ich das in naher Zukunft nicht kommen. Es gibt zurzeit eine solch große Trennung in unserem Land in Bezug auf wirtschaftliche Macht und verschiedene Gruppen. Tiefe Risse durchziehen die Gesellschaft – vor allem zwischen Arm und Reich. Wir sind weit entfernt von Gemeinschaft, Kameradschaft und effizientem Funktionieren als Nation.“
Um so wichtiger sind die vielen Übergänge und Verbindungen, die Unmute schafft. Dazu zählen die Artikulation gesellschaftlicher Wünsche, Integration von Menschen mit und ohne Behinderung sowie die Teilhabe für Alle über den eigenen kulturellen Raum hinaus - eine klare politische Botschaft.
Arbeitsprozesse
Für die Erarbeitung eines neuen Stücks nehmen alle Künstler/innen der Kompanie an einem Rechercheprozess teil, erklärt Rae' Classen. Alle Unmute-Mitglieder sammeln relevante Texte zu einem neuen Thema und diskutieren diese in der Gruppe. Sie wenden sich Teilaspekten zu, setzen diese mit ihren eigenen Erfahrungen in Beziehung, improvisieren und finden neue Ausdrucksformen.
Die Entscheidung, was auf der Bühne gezeigt wird, fällt aber der Choreograph Themba Mbuli. Er begann sein Training im Jugendclub von Soweto im Jahr 2000, später bei Moving into Dance Mophatong. 2008 trat der Inzalo Dance and Theatre Company bei, zudem ist er künstlerischer Direktor im Broken Borders Arts Project. Er hat für und mit zahlreichen Choreographen gearbeitet. Sein eigenes Schaffen hat er meist politisch brisanten Themen gewidmet, beispielsweise die Auseinandersetzung mit politischen Gefangenen. Seit 2013 sind Mbuli und Vellem ein Team. Ihre Unmute Dance Company die erste und einzige, in der südafrikanische Tänzer/-innen mit und ohne Behinderungen gemeinsam auf der Bühne stehen, Trennlinien und Barrieren überwinden. Sie treten in Schulen und bei Kulturfestivals im ganzen Land auf. Das Publikum findet gut, dass sich Unmute diesen Themen stellt.
Grauzonen des Ausdrucks
Die Unmute Dance Company zeigt ihre Stücke auch auf anderen Kontinenten, beispielsweise im Rahmen des Wildwuchsfestivals in Basel, wo der Fokus auf „Kultur für Alle“ lag - dieses Jahr im Speziellen auf Inklusion und Diversität. Hier fiel „Ashed“ auf, weil sich das Stück thematisch nicht dem Erleben und der Auseinandersetzung mit Verschiedenheit durch Behinderungen zuwandte, sondern andere gesellschaftliche und politische Entwicklungen thematisierte. Die Künstler/innen setzten sich nicht mit Inklusion auseinander – sie handelten danach. Und das gut abgestimmt und vorbehaltlos eingeführt. Nur die Lautstärke der Musik für Andile Vellem, der beinahe taub ist und die Musik als Tänzer trotzdem hören musste, wirkte störend und irritierend.
So war der (verstärkte) Gesang von Mama Afrika unerträglich laut. Mehrere Zuschauer hielten sich die Ohren zu. Gleichzeitig wurden Schüsse inszeniert, sterbende Körper vom Schock verzerrt. Die Mutter mit dem kleinen Kind hatte den Saal bereits verlassen. Das war nicht erstaunlich und man konnte sich fragen: Wieso schauen wir so etwas Schreckliches mit an? Und das ist wohl gerade der Grund für die Performance: Realisieren, dass man selbst keine versteinerte Skulptur ist. Dass das, was da passiert, bewegt.
Im zeitgenössischen Tanz wollen Tänzer und Körper für sich sprechen – ohne symbolisches Gerüst. Folglich ist es ein Wagnis, mit expliziten Symbolen und klaren Aussagen zu arbeiten, aber auch ein interessanter Zugang – gerade von einem Choreographen, der die Gebärdensprache spricht. Seine Art, auch im Alltag mit dem Körper zu kommunizieren, mit Gesten, die eine explizite Bedeutung haben, findet in der Grauzone zwischen Ausdruck durch Tanz und verbaler Sprache statt. Und in dieser Grauzone ist eben auch sein Zugang zur Choreographie angesiedelt.
Nach der Aufführung diskutierte das Publikum nicht über die politische Botschaft, sondern nur über das „Afrikanische“. Gibt es etwas grundsätzlich Anderes, Charakteristisches von Kompanien aus Afrika im Vergleich mit Europa? Das reduziere die Kunst auf für sie irrelevante Kriterien, sagt die Tänzerin Rae' Clasens. Die Arbeit mit Symbolen oder die Lautstärke der Musik seien ihrer Kompanie eigen und nicht eine Art und Weise, die sie mit anderen Kompanien aus Südafrika teilen. Und dennoch kommt die geisterhafte Mama Afrika in „Ashed“ vor, sie zeigt das Ringen um Identität und den Wunsch nach Einheit.